Titandioxid (TiO₂) in der Lebensmittelindustrie: Unterschiedliche Bewertungen und die Kontroverse um E171
Seit den 1960er Jahren wird Titandioxid (TiO₂) als Weißmacher und Farbstoff in der Lebensmittelindustrie verwendet. Unter der Bezeichnung E171 fand es auch in der EU breite Anwendung in Produkten wie Süßigkeiten, Backwaren, Milchprodukten und Kaugummis. TiO2 besitzt hervorragende Weißfärbeeigenschaften und hohe chemische Stabilität, weshalb sein Zusatz Lebensmittel optisch ansprechender macht und ihnen eine einheitliche weiße oder undurchsichtige Farbe verleiht. Seit Beginn seiner Verwendung bestand E171 aus einer Mischung von Partikeln unterschiedlicher Größe, wobei ein gewisser Anteil immer unter 100 Nanometer (nm) lag, was diese per Definition zu Nanopartikeln macht. Fortschritte in der Messtechnik zeigten, dass E171 oft einen signifikanten Nanopartikelanteil aufweist, weshalb die Sicherheit von E171 erneut in den Fokus rückte.
Im Jahr 2021 veröffentlichte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) eine Neubewertung von E171 in der sie feststellt, dass TiO2-Partikel insgesamt schlecht vom Körper absorbiert werden und eine geringe Bioverfügbarkeit (unter 1 %) haben. Nicht abschließend geklärt werden konnte für die Behörde aber die Frage, ob sich die Partikel aufgrund ihrer langen Halbwertszeit im Körper anreichern können. Dabei verweist die EFSA auf einzelne Rattenstudien, bei denen neben einer Anreicherung im Darmlumen, Partikel in Organen wie Leber und Milz, wenn auch in sehr niedrigen Konzentrationen, nachgewiesen werden konnten. Dies könnte auf eine mögliche Verteilung im Körper hinweisen. Auch blieben Bedenken bezüglich genotoxischer Eigenschaften laut EFSA bestehen, da TiO₂-Partikel in einigen Studien DNA-Strangbrüche und Chromosomenschäden verursachten. Die EFSA diskutiert, dass mehrere Wirkungsweisen parallel ablaufen könnten, wobei deren relativen Beiträge bisher ungeklärt sind. Daher besteht Unsicherheit, ob ein Schwellenwert- Mechanismus angenommen werden kann, der für die Festlegung einer tolerierbaren täglichen Aufnahmemenge (TDI) nötig wäre. Auf Basis dieser Schlussfolgerungen verbot die EU ab 2022 die Verwendung von E171 in Lebensmitteln.
Im Gegensatz zur EU stufen andere internationale Behörden E171 weiterhin als sicher ein. Die US-amerikanische FDA und das Gemeinsame FAO/WHO-Expertenkomitee für Lebensmittelzusatzstoffe (JECFA) überprüften 2023 die Sicherheit von E171 erneut. Auf Basis toxikologischer und biochemischer Daten kamen beide zu dem Schluss, dass E171 in den zugelassenen Mengen von maximal 1 % im Lebensmittel kein gesundheitliches Risiko darstellt. Die für die EFSA-Bewertung herangezogenen Genotoxizitätsstudien wurden darüber hinaus kritisch hinterfragt, da laut FDA viele der Tests auf TiO₂-Varianten basierten, die nicht repräsentativ für Lebensmittelzusätze sind. Zudem wurde kein Nachweis für krebserregende Eigenschaften in Studien des amerikanischen National Toxicology Program (NTP) gefunden worden.
Im Jahr 2024 veröffentlichte das Committee on Toxicity (COT) in Großbritannien ebenfalls eine umfassende Bewertung der potenziellen Gesundheitsrisiken von E171. Die Experten analysierten verschiedene toxikologische Endpunkte, darunter Genotoxizität, Immuntoxizität und Neurotoxizität, und stellten fest, dass keine belastbaren Hinweise für eine gesundheitsgefährdende Wirkung durch TiO₂ in Lebensmitteln vorliegen. Das COT betonte, dass die Aufnahmemenge in Lebensmitteln, selbst für hohe Konsumenten, den von ihnen festgelegten Richtwert von 10 mg pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag nicht überschreite. Ein Risiko für die Gesundheit wird daher als unwahrscheinlich erachtet, auch wenn ein minimaler Überschuss über dem Richtwert bei extrem hohem Konsum möglich sei.
Auch andere internationale Regulierungsbehörden wie Health Canada und Food Standards Australia New Zealand (FSANZ) teilen die Einschätzung der EU nicht und erlauben weiterhin den Einsatz von TiO₂ in Lebensmitteln. In der EU bleibt E171 trotz der widersprüchlichen Entscheidungen in anderen Ländern verboten. Für eine Neubewertung setzt die EU auf zusätzliche Studien, um verbleibende Unsicherheiten auszuräumen.
Text: Ute Haßmann
Foto von Olivie Strauss auf unsplash+
Links:
- Safety assessment of titanium dioxide (E171) as a food additive | EFSA
- EFSA Re-Assessment of Titanium Dioxide (E 171) , 2021 | Committee on Toxicity
- Regulation (EU) No 1169/2011
- Food-grade TiO2 impairs intestinal and systemic immune homeostasis, initiates preneoplastic lesions and promotes aberrant crypt development in the rat colon | PubMed
- Titanium Dioxide as a Color Additive in Foods | www.fda.gov/...
- Executive Summary - Statement on the safety of Titanium Dioxide (E171) as a Food Additive | Committee on Toxicity
Titandioxid (TiO2)
Titandioxid ist ein anorganisches Pigment, das in verschiedenen kristallinen Formen vorkommt, hauptsächlich in den Modifikationen Rutil und Anatas. Diese unterscheiden sich in ihrer Kristallstruktur, ihren physikalischen Eigenschaften und ihrer Stabilität.
Nanotechnologie
Die Nanotechnologie, also die gezielte Skalierung von Materialien in den Größenbereich von 1-100 nm, entstand in den 1960er bis 1980er Jahren als interdisziplinäres Forschungsfeld. Wissenschaftler entdeckten, dass Materialien im Nanometerbereich einzigartige physikalische und chemische Eigenschaften aufweisen, die sich stark von denen größerer Partikel unterscheiden. Nanotechnologie ermöglicht es, die Struktur und Zusammensetzung von Materialien auf der Nanoskala zu beeinflussen, um Materialien mit spezifischen optischen, magnetischen oder mechanischen Eigenschaften zu entwickeln. Die Nanotechnologie vereint Chemie, Physik, Biologie, Materialwissenschaft und Ingenieurwissenschaften und wird in Bereichen wie Medizin, Elektronik, Umwelttechnik und Lebensmitteltechnologie angewendet.
Bewertung (TiO2)
Da E171 aus einem Gemisch aus Partikeln besteht, von denen ein Teil nanoskalig ist, wurde für die Bewertung von E171 sowohl Studien herangezogen, die mit E171 durchgeführt wurden, als auch Untersuchungen an anderen TiO₂-Nanopartikel, um potenzielle Risiken besser einschätzen zu können.
Dabei berücksichtigte die EFSA insbesondere, dass in E171 weniger als 50 % der Partikel eine Größe von unter 100 nm aufweisen, wodurch es teils wie ein Nanomaterial wirkt. Studien mit reinen TiO₂-Nanopartikeln <30 nm wurden allerdings nur eingeschränkt als relevant betrachtet, da sie kaum in E171 vorkommen. Zusätzlich kann E171 größere Agglomerate bilden, die sich anders verhalten, was die Bewertung zusätzlich erschwert.
Sicherheitsbewertung von Nanopartikeln
Um die Sicherheit eines Lebensmittels, aber auch einer Chemikalie bewerten zu können ist es von zentraler Bedeutung, dass der Stoff genau charakterisiert werden kann und dass der Mechanismus wie, und die Konzentration, in welcher es zu adversen Effekten kommt, genau geklärt sind. Dies kann die Festlegung eines Schwellenwerts ermöglichen, der so genannten tolerierbaren täglichen Aufnahmemenge (TDI-Wert), die als sicher betrachtet werden kann.
Ab den 2000er Jahren wurden erste umfassende Untersuchungen zu möglichen Gesundheitsrisiken von Nanopartikeln durchgeführt. Es zeigte sich, dass Nanopartikel aufgrund ihrer geringen Größe in menschliche Zellen und Gewebe eindringen können, was potenziell schädliche Effekte auf Zellen und Organe zur Folge haben kann.
Das wachsende Verständnis für ihre Mobilität im Körper und ihre potenzielle Toxizität brachte die Notwendigkeit von Regulierungen. Mittlerweile gibt es in der EU für alle Bereiche, in denen Nanopartikel eingesetzt werden, entsprechende Richtlinien und Regularien zur Untersuchung der Sicherheit von Nanopartikeln. So werden Lebensmittelzusatzstoffe wie E171 durch die EU-Verordnung EG Nr. 1333/2008 reguliert.
Auch in der EU dürfen TiO2-Nanopartikel weiterhin in verschiedenen Bereichen, darunter Kosmetikprodukten, Medizinprodukten, Farben, Lacken, Kunststoffen, Papieren und Textilien sowie in der Umwelttechnik verwendet werden. In Kosmetika, wie Sonnenschutzmitteln, sind sie als UV-Filter zugelassen, wobei Nanopartikel als solche gekennzeichnet sein müssen. In Medizinprodukten müssen strenge Sicherheitsanforderungen erfüllt sein, insbesondere wenn die Partikel direkten Kontakt mit dem Körper haben. Zunehmend wird in der EU aber auch in diesen Bereichen über ein Verbot von TiO₂-Nanopartikeln diskutiert und Anwendungen mit TiO₂ stehen derzeit unter besonderer Beobachtung.