Das Supermutagen – Das gefährlichste Molekül, das nie hergestellt wurde
Die Frage, ob sich das Krebsrisiko einer Chemikalie aus ihrer Struktur ableiten lässt, beschäftigt die Toxikologie schon lange. Die Erforschung der chemischen Karzinogenese beginnt mit dem polyzyklischen Aromaten Benzo[a]pyren, ein Bestandteil von Teer und Tabakrauch, der 1837 erstmals vom französischen Chemiker Auguste Laurent aus Steinkohlenteer isolierte wurde. Es war eine der ersten Substanzen, bei der gezeigt wurde, dass bestimmte Strukturen Krebs verursachen können. Später wurde entdeckt, dass Benzo[a]pyren durch enzymatische Oxidation zu hochreaktiven Epoxiden aktiviert wird, die DNA-Addukte bilden und Mutationen auslösen. Ein zentraler Schritt bei der Erkenntnis, dass bestimmte funktionelle Gruppen Warnsignale für genotoxische Potenz sein können. Auf dieser Grundlage entwickelten John Ashby und Raymond Tennant in den 1990iger-Jahren ihr Konzept. Sie werteten 301 Chemikalien des National Toxicology Programs (NTP) aus. Für jede Substanz erfassten sie die Tumorbefunde bei Ratten und Mäusen, die Mutagenität im Ames-Test und das Vorliegen von DNA-reaktiven Strukturalarmen (Alerts). Dies erlaubte, Zusammenhänge zwischen chemischer Struktur, Mutagenität und Karzinogenität sichtbar zu machen. So können elektrophile Gruppen wie Epoxide, Nitroverbindungen oder aromatische Amine mit DNA-Basen reagieren und Mutationen hervorrufen. Solche Substrukturen wurden von Ashby & Tennant in einer Art Baukastensystem gesammelt und in das hypothetische „Supermutagen“ integriert, ein gedachtes Molekül, das alle Alarmsignale vereint. Mit jeder neuen Beobachtung erweiterte sich das Modell, etwa um die aliphatische Nitrogruppe, nachdem Tetranitromethan als starkes Lungenkarzinogen bestätigt wurde.
Das Konzept bot eine klare Logik: Trägt ein Molekül eine oder mehrere solcher Strukturen, steigt seine Wahrscheinlichkeit, ein genotoxisches Karzinogen zu sein. Zusammen mit Mutagenitätstests wie dem Ames-Test ließe sich so das Krebsrisiko frühzeitig einschätzen.
Ashby & Tennant erkannten aber auch früh die Grenzen ihres Systems, denn nicht alle Substanzen mit Strukturalarmen erwiesen sich als Karzinogene, und manche Karzinogene zeigten keine Mutagenität und keine offensichtlichen Strukturalarme. Beispielsweise führt Hydrochinon, ein Antioxidans in Kunststoffen und früher wichtiger Entwickler in der Fotografie, zu Nierentumoren, obwohl es im Mutagenitätstest nicht mutagen war. Umgekehrt erwies sich Allylglycidylether, ein Monomer für Epoxidharze und Beschichtungen, als stark mutagen, führte aber nur zu einer sehr geringen Tumorinzidenz bei Mäusen. Diese Beispiele verdeutlichten, dass Bioverfügbarkeit, Metabolismus, Organspezifität und alternative Mechanismen ebenso entscheidend sind.
Das Konzept der Strukturalarme hat die toxikologische Praxis geprägt. Es festigte die Bedeutung der Identifizierung struktureller Merkmale im Zusammenhang mit Toxizität und ebnete den Weg für moderne Vorhersagemethoden. Zusammen mit modernen QSAR-Modellen (Quantitative Structure–Activity Relationships) ist es nach wie vor ein Eckpfeiler der strukturbasierten toxikologischen Vorhersagen.
Mit Hilfe großer Datenbanken und Algorithmen werden heute molekulare Eigenschaften in Vorhersagen übersetzt, um z. B. das DNA-reaktive Potenzial zu erkennen. Mit elektronischen Parametern, Lipophilie-, Löslichkeits- und Stabilitätsdaten, sowie maschinellem Lernen können komplexe Zusammenhänge berechnet werden, um alle nötigen Parameter zu berücksichtigen und diese in ein integratives Bewertungssystem einzubetten. Diese Modelle erlauben es, frühzeitig Substanzen mit hohem Mutagenitäts-Potential zu identifizieren und zu priorisieren und gewinnen daher zunehmend an regulatorischer Anerkennung.
Text: Ute Haßmann
Foto von Sangharsh Lohakare auf Unsplash
Links:
- Ashby, J. (1985), Fundamental structural alerts to potential carcinogenicity or noncarcinogenicity. Environ. mutagen, 7: 919-921 https://doi.org/10.1002/em.2860070613
- Chemical structure, Salmonella mutagenicity and extent of carcinogenicity as indicators of genotoxic carcinogenesis among 222 chemicals tested in rodents by the U.S. NCI/NTP - ScienceDirect https://doi.org/10.1016/0165-1218(88)90114-0
- Quantitative Structure–Activity Relationships - ScienceDirect
- Benzo(a)pyren – Wikipedia
Der Vorschlag, das „Supermutagen“ als Gift des Monats auszuwählen, kam vom Arbeitskreis Computational Toxicology…
…da dieses Konzept exemplarisch für den Übergang von klassisch-empirischer Toxikologie zu modernen, rechnergestützten Methoden steht. Ashby & Tennants Gedankenmodell gilt als frühe Blaupause für QSAR- und In-silico-Ansätze, die heute in Regulierung und Forschung unverzichtbar sind. Mit dieser Wahl möchte der Arbeitskreis die historische Bedeutung hervorheben und zugleich die Relevanz aktueller computergestützter Modellierungen für eine versuchstierärmere, schnellere und präzisere Risikobewertung unterstreichen.
Mutagenität ist nicht gleich Karzinogenität
Mutagenität beschreibt die Fähigkeit einer Substanz, Mutationen im Erbgut auszulösen, meist durch direkte DNA-Schädigung. Karzinogenität hingegen bezieht sich auf die Fähigkeit, im Organismus Krebs zu verursachen - ein Prozess, der zwar oft Mutationen einschließt, aber auch durch hormonelle Effekte, chronische Entzündungen oder oxidative Stressmechanismen entstehen kann.
Daher gilt: Nicht jede mutagene Substanz ist automatisch ein Karzinogen, und nicht jedes Karzinogen ist mutagen. Aus den NTP-Daten von Ashby & Tennant lassen sich beide Fälle belegen: Hydrochinon verursachte Tumore ohne Mutagenität, während Allylglycidylether stark mutagen ist, aber nur minimale Tumorinzidenzen zeigt.
Diese Unterscheidung ist bis heute grundlegend für die toxikologische Bewertung.
Supermutagen – ein Gedankenmodell
Ein Molekül, das alle DNA-reaktiven Gruppen vereint, wie es im Supermutagen der Fall ist, wäre in der Realität chemisch kaum realisierbar. Reaktive Gruppen wie Epoxide, Nitro- oder Alkylierungsmotive wären instabil oder würden sich in Nebenreaktionen zersetzen, noch bevor sie in biologischen Systemen wirken könnten.
Die Bedeutung des Supermutagens lag und liegt deshalb nicht in der synthetischen Machbarkeit, sondern in der symbolischen Verdichtung aller bekannten Strukturalarmen, die als didaktisches Werkzeug fungiert, um damit sichtbar zu machen, welche funktionellen Gruppen als Warnsignale für DNA-Reaktivität gelten, und wie ihre Kombination das Risiko potenziell verstärkt. In der Praxis bleibt es ein Gedankenexperiment, aber eines, das die Entwicklung moderner Vorhersagemodelle und die Diskussion über die Grenzen struktur-basierter Toxikologie entscheidend geprägt hat.